Wenn man über das Vorgehen der Kommunistischen Partei Chinas Falun Gong gegenüber Bilanz ziehen würde, würde man einen Kurs rigider oder endlos eskalierender Verfolgung erwarten. In einem im Jahr 2015 erschienenen Artikel erörtern der Wissenschaftler Stephen Noakes und der Forscher Caylan Ford, dass die Partei in einem Pfadabhängigkeitsdilemma der Gruppe gegenüber gefangen ist, wenn es um Falun Gong geht, d.h. einmal gemachte Fehler verfestigen sich. Milliarden von Dollar sind bereits investiert worden. Die Legitimität der Partei wäre ernsthaft unterminiert, wenn eine Kehrtwende erfolgen würde. Eine solche Änderung würde Druck erzeugen, den Griff auf andere religiöse Gruppen zu lockern. Währenddessen bleibt einer der eigentliche Gründe, der zum Verbot von Falun Gong führte, weiterhin bestehen – die tiefsitzende Angst der Partei vor jeglicher großen und unabhängigen gesellschaftlichen Gruppe.
Überraschenderweise gibt es zwischenzeitlich jedoch Hinweise auf „Risse“ im repressiven Parteiapparat, die es einigen lokalen Funktionären möglich machten, von der Verfolgung der Falun-Gong-Praktizieren Abstand zu nehmen. Eine Dynamik von Situationen, die vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre – die Freilassung eines langjährigen Falun-Gong-Praktizierenden nach nur wenigen Tagen Haft, Polizeibeamte, die Falun-Gong-Praktizierende in Haft erlauben, die Falun Gong-Übungen zu praktizieren, oder Polzeibeamte, die aktiv Falun-Gong-Praktizierende schützen – sind bereits über das ganze Land verteilt aufgetreten und scheinen nicht nur isolierte Einzelfälle gewesen zu sein.
Dieser Trend hat möglicherweise begonnen, Einfluss auf gerichtliche Entscheidungen zu nehmen, eine bemerkenswerte Entwicklung für eine repressive Kampagne, welche die „nur das Regime hat Recht“-Merkmale des chinesischen Justizwesens verkörpert. Im Juni 2015 fällte ein Richter in der Provinz Shaanxi das erste bekannt gewordene „Nicht schuldig“-Urteil für einen Falun-Gong-Praktizierenden, Pang You, der sofort freigelassen wurde, nachdem sich andere intensiv für ihn eingesetzt hatten. Offensichtlich sind auch mehr Falun-Gong-Praktizierende zu regulären Gefängnisstrafen verurteilt worden, seit im Jahr 2013 die Abschaffung der Arbeitslager diese alternative Form der Inhaftierung abgelöst hat, aber die aktuell verfügbaren Daten weisen darauf hin, dass die Gesamtzahl der inhaftierten Praktizierenden weit geringer ist, als zu der Zeit, als das Arbeitslager-System in Kraft war.
Mehrere sich überschneidende Faktoren scheinen diese Veränderungen voranzutreiben:
Die politische Säuberung von Parteikadern in Schlüsselpositionen, die mit der Verfolgung von Falun Gong in Verbindung standen: Als ein Teil von Xi`s Anti-Korruptionskampagne fielen mehrere hochrangige „Tiger“ der politischen Säuberung zum Opfer und wurden zu Gefängnis verurteilt; sie spielten beim Vorantreiben und bei der Umsetzung der gesamten Anti-Falun Gong-Anstrengungen eine entscheidende Rolle. Die zwei wichtigsten von ihnen waren der frühere Sicherheits-Zar Zhou Yongkang und der frühere Chef des Büros 610 Li Dongsheng. Am 11. Juni 2015 gaben die staatlichen Medien bekannt, dass Zhou zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war; dies war fast der selbe Tag, an dem der oben genannte Falun-Gong-Praktizierende aus Shaanxi freigesprochen wurde. Die Falun-Gong-Praktizierenden, die mit Sicherheitskräften zu tun haben, nutzen solche Ereignisse, um Parteikader auf einer niedrigeren Ebene zu ermutigen, sich von der Verfolgungskampagne zu distanzieren.
Bürokratische Schwächung repressiver Institutionen: Die Säuberungsaktion gegen Zhou und Li zusammen mit der Abschaffung des Arbeitslagersystems scheint den Einfluss von Institutionen, die in der Verfolgung von Falun Gong eine wichtige Rolle gespielt haben, geschwächt zu haben. In den drei Jahren nach Li´s erster Inhaftierung im Jahr 2013 hat das Zentrale Büro 610 drei verschiedene Leiter gehabt, wobei der als letzter Ernannte – Huang Ming – den Posten im Mai 2016 übernahm. Eine solche Fluktuation, mit Zeiträumen der Vakanz, steht im Gegensatz zu Li´s vierjähriger Amtszeit. Seit dem Ende der von 2013 bis 2015 andauernden „Transformations“-Kampagne fand Freedom House zwischenzeitlich keine Hinweise mehr auf einen neuen, zentral gesteuerten Vorstoß gegen Falun Gong. Als Vergleich: Sobald die von 2010 bis 2012 andauernde Verfolgungskampagne beendet wurde, wurde die nächste Mobilisierung in 2013 begonnen. Als ein zusätzliches Anzeichen von schwindendem Eifer initiierte die mächtige Zentrale Disziplinarkommission der Kommunistischen Partei Chinas im Juli 2016 zum ersten Mal eine zweimonatige Inspektion des Zentralen Büro 610. Lokale Zweige dieser Behörde funktionieren jedoch weiterhin durch das ganze Land. Dies jedoch mit Unsicherheit und schwächerer Führung auf den oberen Befehlsebenen, sodass es mehr Raum gibt für ein schleppendes Vorgehen bei örtlichen Polizeidienststellen, die die Aufgabe, Falun-Gong-Praktizierende zu verfolgen, widerlich finden oder die darüber besorgt sind, dass sie später für ihre Misshandlungen zur Rechenschaft gezogen werden könnten.
Langzeit-Auswirkungen von direktem Kontakt zum Rechts- und Sicherheitsapparat: Seit über einem Jahrzehnt sind Falun-Gong-Praktizierende innerhalb und außerhalb Chinas zusammen mit ihren Anwälten und Familienmitgliedern dabei, direkt mit Sicherheitsbeamten und Richtern telefonisch und persönlich zu kommunizieren. Sie bitten diese dabei dringend, örtliche Falun Gong praktizierende Bürger nicht zu verhaften, oder legen ihnen dar, dass die Verfolgung illegal ist und die Angeklagten unschuldig sind. Allmählich scheinen diese Anstrengungen Früchte zu tragen. Einer der Interviewten, der tausende von solchen Telefonaten geführt hat gab an, „dass sich die Polizei in verschiedenen Orten in ganz China klarer ist über die wahre Situation; es gibt zwischenzeitlich viele Fälle, in denen die Polizei Falun-Gong-Praktizierenden heimlich hilft“. Ein Anwalt, der Falun-Gong-Praktizierende als Mandanten vertreten hat, machte eine ähnliche Beobachtung: „Nachdem Falun-Gong-Praktizierende mit örtlichen Polizeibeamten gesprochen hatten, änderten einige von ihnen ihre Einstellung und wurden sich darüber klar, dass die Praktizierenden keine Bedrohung sind, weshalb sie sie schließlich nicht verhaftet haben“. Eine neue Reihe von Richtlinien des Obersten Volksgerichtshofs in China, die das Einreichen von Anzeigen und gerichtlichen Verfahren erleichtern soll, trat am 1. Mai 2015 in Kraft. Sowohl Praktizierende im Festlandchina als auch außerhalb Chinas haben dies genutzt, um eine noch größere und wagemutige Anstrengung zu initiieren: das Einreichen von gerichtlichen Klagen und Anzeigen beim Obersten Volksgerichtshof und bei der Obersten Staatsanwaltschaft aufgrund der Misshandlungen, welche sie erlitten haben, sie benennen dabei Jiang Zemin als den Verantwortlichen für diese Verbrechen (siehe unten). Viele Faktoren scheinen dazu beizutragen, dass Folteropfer in China solche Anzeigen einbringen. Eine Motivation, die bei den Interviewten wiederholt auftauchte, war der Wunsch, diejenigen auf den höchsten Führungsebenen der Gerichtsbarkeit zu informieren, was die Schuldhaftigkeit Jiang Zemin´s anbelangt, in der Hoffnung, dass sie „die richtige Wahl treffen“ und entweder „Jiang vor Gericht bringen“ oder zumindest sich selbst nicht daran zu beteiligen.